Auf den Stellenwert des Narzissmus-Konzeptes in der Gesellschaft ging Prof. Dr. Armin Nassehi, Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie an der LMU München, ein. Das Gegenprinzip zum kulturellen Narzissmus sei der gute Grund. Gute Gründe zeichneten sich dadurch aus, dass sie ausschließlich von der Sache her gelten gute Gründe seien dafür erfunden worden, um die zu begründende Tatsache von der begründenden Person abzukoppeln. Es gehe um das Beobachtete, nicht um den Beobachter. In immer weiteren Bereichen der Gesellschaft sei festzustellen, dass wir ohne die Beobachtung von Beobachtern nicht auskommen. Gute Gründe seien dann womöglich nur aus der Perspektive eines bestimmten Beobachters gute Gründe. Ohne diese Erkenntnis sei kein modernes Wirtschaftssystem möglich, Politik sei ohne die Beobachtung von Beobachtern undenkbar, und Familien seien immer mehr Systeme der Kooperation von Perspektivendifferenz. Das heiße jedoch nicht zwingend, dass wir in einer narzisstischen Kultur lebten. In der Gesellschaft löse jedoch immer öfter die Rede bzw. der Sprecher den sachlichen guten Grund ab. Die authentische Rede werde damit in den Rang eines Grundes gesetzt.
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung: Genese, Diagnostik und Therapie aus verhaltenstherapeutischer Sicht war der Titel des Fachvortrags von Dr. Michael Marwitz, Leiter Therapie in der Schön Klinik Roseneck. Patient/innen, die unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden, gelten als schwer zu behandeln. Im psychotherapeutischen Umgang imponiere die grandiose Darstellung der eigenen Person, das ausgeprägte Bedürfnis nach Bewunderung und Bestätigung, oft einhergehend mit demonstrativ zur Schau gestellter Autonomie einerseits und gleichzeitig spürbarer Bedürftigkeit anderseits. Drei Ansatzpunkte seien in der Psychotherapie wesentlich: das Erarbeiten eines realistischen Selbstkonzeptes, der Erwerb funktionaler Emotionsregulationsstrategien und die Verbesserung der Beziehungsfähigkeit.
Dr. Martin Altmeyer, Klinischer Psychologe mit eigener Praxis in Frankfurt am Main, stellte die narzisstische Persönlichkeitsstörung als soziale Konstruktion vor. Sozial konstruiert sei nicht nur die narzisstische Persönlichkeitsstörung, sondern der Narzissmus selbst. Denn unsere scheinbare Eigenliebe oder Selbstbezogenheit hätten im Unbewussten die Umwelt im Blick. Den Anderen betrachten wie er mich betrachtet so laute die narzisstische Grundformel. Schau mich an! Höre mir zu! Beachte mich! Bewundere mich! Weil Du mir den Blick verweigerst, die Aufmerksamkeit entziehst, die Bewunderung versagst, ziehe ich mich von Dir zurück oder greife Dich an!: Mit diesen unausgesprochenen Botschaften würden Psychotherapeut/innen in der Psychotherapie konfrontiert. Dabei spanne sich das weite Feld der narzisstischen Störung zwischen eigener Grandiosität (Ich fühle mich großartig, weil eins mit der Welt!), Rückzugsphantasien (Mit einer Welt, die mich so behandelt, will ich nichts zu tun haben!) und kompensatorischen Anwandlungen von Wut, Rache und Gegenangriff (Wer mich missachtet oder verletzt, soll spüren, mit wem er es zu tun hat!). Die globalisierte Medien- und Kommunikationsgesellschaft stelle eine Fülle identitätsstiftender Spiegel- und Resonanzräume zur Verfügung, in denen sich jeder und jede der Welt als unverwechselbar, besonders und einzigartig präsentieren könne und auf ein soziales Echo warte.
Dr. Bärbel Wardetzki beleuchtete in ihrem Vortrag den weiblichen und männlichen Narzissmus. Ausgehend von ihrer psychotherapeutischen Erfahrung mit Frauen, die unter Bulimie leiden, habe sie sich dem weiblichen Narzissmus als Thema zugewandt. Diese Frauen versuchten, ihre Selbstzweifel und Selbstunsicherheit hinter einer selbstbewussten Fassade zu verbergen. Durch Attraktivität, Schlanksein, Leistung, Perfektionismus und Etwas Besonderes-Sein sollen ihre Minderwertigkeitsgefühle ausgeglichen werden. Beide Formen, die männliche und die weibliche, seien wie zwei Seiten einer Medaille und hätten dieselbe narzisstische Grundstörung. Sie zeigten aber nach außen, in ihren Kontakten, jeweils eine andere Seite: den weiblichen Typus der Anpassung und den männlichen der Vermeidung. Bezogen auf die zwei Ausprägungen der narzisstischen Persönlichkeiten könne die weibliche Form dem depressiven Pol und die männliche dem grandiosen zugeordnet werden. Die jeweils andere Seite gehöre jedoch auch dazu, werde aber nicht nach außen gezeigt: Unter der grandiosen Fassade liege eine Depression und hinter der Depression sei die Grandiosität verborgen.