Die Organisationen Psychiatrie-Erfahrener begrüßen das Urteil als Chance, Zwangsbehandlungen zu reduzieren und sie in Umfang und Methoden mehr am Willen der Betroffenen auszurichten. Ärztinnen und Ärzte sehen sich dagegen aktuell in einer rechtlichen Grauzone zwischen der Vorgabe, keine Medikation gegen den Willen der Patient/inn/en vorzunehmen, und dem möglichen Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung für psychisch schwer kranke Menschen in akuten Krisensituationen. Der Bundesgerichtshof hat keine Übergangsregelung geschaffen, die diesen Konflikt überbrücken könnte.
Patient/inn/en, die jetzt auf der Grundlage des BGB untergebracht werden, können nur dann noch gegen ihren Willen eine Zwangsbehandlung erhalten, wenn die Erkrankung so akut und die Situation so eskaliert ist, dass eine Intervention nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) gerechtfertigt ist. Es muss also eine konkrete Gefahr bestehen, die bei Abwägung der Rechtsgüter nicht anders abgewehrt werden kann.
Die andere Alternative ist in den meisten Bundesländern die Einweisung nach Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) oder in Bayern nach dem Bayerischen Unterbringungsgesetz. Demnach kann (in Bayern) gegen seinen Willen untergebracht werden, wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet, insbesondere bei konkreter Selbst- oder Fremdgefährdung. Gemäß Art. 13 Abs. 2 ist dann eine unaufschiebbare Behandlungsmaßnahme mit der Anwendung von unmittelbarem Zwang möglich. Die Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz kann erhebliche Nachteile für die Betroffenen haben, wie etwa die Einschränkung des Postgeheimnisses oder den Einzug der Fahrerlaubnis, wie ihn viele Ordnungsämter in Bayern praktizieren.
Welche konkreten Maßnahmen jeweils ergriffen werden, ob Zwangsmedikation oder mehr mechanische Fixierungen, darüber besteht bei den psychiatrischen Kliniken noch kein einheitliches Bild. Auch Entlassungen aus der Klinik trotz akuter Symptomatik sind angekündigt, wenn weder das Unterbringungsgesetz noch § 34 StGB angewendet werden können und der Patient oder die Patientin trotz eingehender Information durch die Behandler/innen einer medikamentösen Behandlung nicht zustimmen will oder kann. Das bedeutet eine immense Belastung für alle Beteiligten auch für die Angehörigen, die schon in der bisherigen Situation oft beklagten, dass keine adäquate Hilfe erfolgt, bevor nicht etwas passiert ist.
Nun sind Bundesregierung und Bundestag gefordert, sehr zügig ein bundesweites Verfahren festzulegen, wie die Rechte der Patientinnen und Patienten auf Selbstbestimmung gewahrt und trotzdem dringend erforderliche Behandlungen schnellstmöglich aufgenommen werden können. Das hat absolute Priorität. Die aktuelle Situation zeigt aber auch, wie notwendig ein Psychisch-Kranken-Gesetz für Bayern ist, das Expertinnen und Experten der Behandlung psychisch kranker Menschen seit langem fordern. Es sollte neben der geschlossenen Unterbringung vor allem die Hilfen strukturieren, mit denen Zwangsmaßnahmen reduziert bzw. vermieden werden können. Ambulante psychiatrische, psychotherapeutische und soziale Hilfen unter Einschluss von Krisendiensten vermindern Einweisungen in stationäre Behandlung oder Unterbringungen und senken die stationäre Behandlungsdauer.
Die PTK Bayern begrüßt, dass durch das Urteil des Bundesgerichtshofes die Rechte der Patient/inn/en gestärkt werden. Sie erwartet, dass durch die Klärung der gesetzlichen Grundlagen für Zwangsmedikationen ein transparentes Verfahren geschaffen wird, das psychisch kranken Menschen die notwendige Hilfe zukommen lässt und die beteiligten Behandler/innen in ihrer schwierigen Aufgabe unterstützt. Die PTK appelliert an die bayerische Staatsregierung und den Landtag, die langjährigen Vorarbeiten für ein Psychisch-Kranken-Gesetz wieder aufzugreifen und zum Abschluss zu bringen. Die Kammer sichert ihre Mitwirkung an der Erarbeitung des Gesetzes zu.